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  Aufsatz von Erst Ulrich von Weizsäcker: Globalisierung und Demokratie

Ernst Ulrich von Weizsäcker - Globalisierung und Demokratie -Beitrag für „Scheidewege 2002/2003“ (32. Jahrgang) - (Juni/September 2002)

Die Jahre 1989/1990 markierten das Ende des Kalten Krieges. Dieser hatte uns allen viel Leid und die permanente Angst vor einem dritten Weltkrieg gebracht. Zugleich hatte der Kalte Krieg – unbeabsichtigt – eine äußerst wirksame Schutzfunktion für den Nationalstaat. Die beiden großen miteinander rivalisierenden ideologischen Blöcke mussten nämlich um die Gunst der Nationalstaaten buhlen. Am deutlichsten war das in den Entwicklungsländern. Was hat nicht Kuba für goldene Privilegien aus seiner Zugehörigkeit zum „Ost­block“ gezogen? Was haben nicht Indien oder Tansania an westlicher Entwicklungshilfe eingestrichen, um den Preis, sich politisch von der Sowjetunion und China fern zu halten?

Doch das Buhlen ging noch viel weiter! Was sprach man nicht angstvoll von der drohenden „Finnlandisierung“ Europas? Man meinte damit die gefährliche Annäherung an die Sowjetunion. Eine Folge dieser Angst war die Bereitschaft des Kapitals, sich den sozialen Frieden in Deutschland, Schweden, Frankreich usw. ziemlich viel Geld kosten zu lassen. Das galt lange Zeit als die wirksamste Abwehr gegen den Bazillus des Kommunismus. Und so konnte der Nationalstaat, sei es in Schweden, sei es in Indien oder in der westlichen Bundesrepublik Deutschland, ohne Protest des Kapitals eine Politik des sozialen Ausgleichs führen.

Doch nun, 1990, war es mit der Ost-West-Rivalität auf einmal vorbei. Zuerst waren wir alle noch ganz beglückt, ja betrunken, weil die Angst vor dem großen Krieg verflogen war und weil das gute System das schlechte besiegt hatte. Wir träumten auch von den Friedensdividenden, die uns die nun mögliche Abrüstung bescheren würde. Sozialer Ausgleich, Umweltschutz, Entwicklungshilfe und andere edle Projekte schienen in einer vom Kalten Krieg und dem Rüstungs­wettlauf befreiten Welt eine wesentlich verbesserte Perspektive zu bekommen.

Doch genau das Gegenteil trat ein. Auch das Kapital war vom Kalten Krieg befreit. Die Kapitaleigner trauten sich auf einmal weltweit, ihr Grundanliegen nach maxi­maler Verzinsung offensiv zu artikulieren. Es entstand ein Wettrennen der Staaten, der „Wirtschaftsstandorte“ um die Ermöglichung optimaler Kapitalrenditen. Aus diesem Wettrennen wurde ein „schädlicher Steuerwettbewerb“, wie es die OECD nannte. Und dieser Steuerwettbewerb kostete den Staat letztlich mehr Geld, als durch die Friedensdividenden herein kam. Und jetzt fehlte das Geld für die Projekte der „Gutmenschen“, wie man nun die Vertreter der edlen Ziele auf einmal herablassend nannte.

Gewiss hatte die Krise der Staatshaushalte noch weitere Gründe. Die Staaten hatten sich insbesondere in der Sozial- und Gesundheitspolitik in den siebziger Jahren zu viel aufgeladen. Bei insgesamt stetig wachsendem Altenanteil an der Bevölkerung durften die Betriebe in den meisten Ländern ihre älteren Arbeitneh­mer verfrüht in die staatliche Altersversorgung entlassen, was das Verhältnis zwischen Einzahlern und Nutznießern deutlich verschlechterte. In Deutschland kam als zusätzlicher Grund für die Krise der Staatsfinanzen der unbedingt nötige, aber sehr teure Aufbau Ost hinzu.

Indem wir über die Krise der Staatsfinanzen seit Anfang der neunziger Jahre nachdenken, kommen wir unvermeidlich zu dem zentralen Thema unserer Tage, der Globalisierung . Diese war auch durch technische Entwicklungen eingeleitet worden, nicht zuletzt die rasante Entwicklung der Informationstechnik. Die Informations­technik erlaubte auch wesentlich raschere internationale Preisvergleiche, was die Kostenkonkurrenz anheizte.

Informationstechnik und Kostenkonkurrenz waren die Voraussetzung dafür, dass man in den Konzernspitzen auf einmal radikal global denken musste. Und das zentrale Kriterium war die Kapitalverzinsung. Die Konzernspitzen waren anfangs übrigens noch durchaus national zusammen gesetzt; lediglich die Niederlassungen und Vertriebsorga­nisationen waren global. Erst nach 1990 fing es an, dass die Konzerne praktisch heimatlos wurden, wenn nur die Kapitalrendite dadurch zu steigen versprach. Die Konzentration aufs Kerngeschäft, in welchem man weltweit Nummer eins oder zwei sein konnte, - das war nicht mehr national organisierbar.

Die heftigsten Antreiber des Wettrennens um die höchsten Kapitalrenditen waren ohne Zweifel die US-amerikanischen Pensionsfonds. Sie führten sich als eine unsichtbare Hand auf, welche den Konzernen die zu erwirtschaftenden Kapitalrenditen vorschrieben.

Und die Wählerinnen und Wähler? Wie reagierten die? Sie nahmen wahr, dass die nationalen oder die regionalen Regierung gegen Konzernbeschlüsse weitgehend machtlos waren. Die Politikverdrossenheit hat hier eine ganz realistische Wurzel. Das Volk stellt eine erhebliche Verschie­bung des Machtgleich­gewichts vom öffentlichen in den privatwirtschaftlichen Sektor fest. Man reibt sich die Augen und fragt sich, ob die Wahl noch Sinn hat.

Was war da eigentlich passiert? Um diese Frage zu beantworten, stelle ich eine weitere, etwas hintersinnige Frage: Was war vor 1990der hauptsächliche Vorzug des westlichen, marktwirtschaftlichen Systems gegenüber dem autoritär-staatswirtschaftlichen System? Ich behaupte, dass es im Westen ein äußerst attraktives Gleichgewicht zwischen den Starken und den Schwachen im Lande gab. Die Marktwirtschaft ist ein System, welches die Starken florieren lässt. Demgegenüber bietet die parlamentarische Demokratie einen sehr effektiven Schutz für die Schwachen . Es ist wie eine Ironie: weil das auf Gleichgewicht angelegte, attraktive Modell das autoritäre Gegenmodell besiegt hat, ist das alte Gleichgewicht ins Rutschen gekommen. Wenn das Kapital in Ländern mit weniger Schutz für die Schwachen eine höhere Verzinsung erzielt, dann muss es nach der Logik der wirtschaftlichen Konkurrenz dorthin umziehen und damit dem Standort die kalte Schulter zeigen, der sich zu sehr um die Schwachen kümmert. Wir sehen es weltweit. Seit 1990 ist der Sozialstaat auf dem Rückzug. Die Schwachen werden schwächer, die Starken werden stärker. Dass es auf einmal viel mehr Millionäre in den armen Ländern gibt (und dass hiermit statistisch der pro-Kopf-Wohlstand in den meisten Ländern zunimmt), ist gar kein Widerspruch zu dieser Aussage.

Die Marktwirtschaft mag in der Lage sein, die Gesamtmenge der produzierten Waren und Dienstleistungen rascher zu vergrößern als jede andere Wirtschafts­form. Aber die Verteilung der so produzierten Güter bleibt für die Mehrzahl der Menschen äußerst unbefriedigend.

Daneben gibt es noch ein möglicherweise gravierenderes Problem mit der Markt­wirtschaft. Das ist der gnadenlose Anreiz zur Beschleunigung. Stellen wir uns einmal eine Umfrage unter der Leserschaft der Scheidewege oder in einer deutschen Betriebskantine oder irgendwo auf der Welt in einer Straße oder einem Kaufhaus vor. Gefragt wird, was hätten Sie lieber, wenn Sie nur diese Wahl hätten, etwas mehr Sicherheit oder etwas mehr Geschwin­digkeit. Alle oder fast alle würden sich für mehr Sicherheit entscheiden. Aber der Markt produziert Unsicherheit und immer höhere Geschwindigkeit. Das ist die Marktwirtschaft, die von sich selber behauptet, dass sie doch nur das erzeugt, was die Menschen wollen bzw. was sie nachfragen.

Wir wissen natürlich, dass es gar keinen Sinn hat, wenn sich etwa Deutschland aus dieser Geschwindigkeitskonkurrenz ausklinken würde. Wir würden ganz böse bestraft. Von denen, die das Wettrennen mitmachen. Und wir wissen auch, dass die Geschwindigkeit im Durchschnitt mit noch mehr Waren und Dienstleistungen einher geht, die dann zur Verteilung zur Verfügung stehen.

Gleichwohl muss die ideologiekritische Frage erlaubt sein, was denn das für eine Marktwirtschaft ist, die das, was die erdrückende Mehrzahl aller Menschen dringend will, nämlich Sicherheit, eher zerstört als liefert.

Sind nicht sogar einige Grundrechte tangiert, wenn eine ganz hohe Prämie auf allgemeine Beschleunigung erzeugt wird? Wie ist es da bestellt mit der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit derjenigen, die für sich und ihre Familien Sicherheit anstreben und dafür sehr hart und qualitätsvoll zu arbeiten bereit sind? Und wie ist es mit der Würde und Entfaltung derjenigen, die ihren Enkeln eine unzerstörte Welt hinterlassen möchten?

Schon heute klagen Millionen von Menschen über die Dominanz der Marktwirt­schaft. Bei der Ministerkonferenz der Welthandelskonferenz WTO in Seattle Ende 1999 haben sie sich zum ersten Mal weltweit breites Gehör verschafft. Arbeitnehmer­vertreter und Umweltschützer, Kulturschaffende und Kleinbauern, Arbeitslose und Landlose, Ureinwohner und ihre Rechtsanwälte, - sie alle scharten sich zusammen zu der größten jemals gehabten Demonstration gegen die Dominanz des Handels über die Grundrechte. Sie wollten verhindern, dass eine WTO-„Millenniumsrunde“ das Tempo der Wettbewerbsdynamik noch einmal weiter erhöht.

Der Vorwurf lautet häufig, dass die Marktwirtschaft eine neue Art des Kolonialismus sei. US-Amerikaner, die diesen Vorwurf hören, reagieren empört. Haben sie nicht in den vierziger Jahren die Nazi-Diktatur besiegt und Deutschland den Weg in die Freiheit geebnet? Haben sie nicht in den fünfziger und sechziger Jahren das Banner der Freiheit gegen Kolonialherren und gegen den ebenso unterdrückenden Weltkommunismus hoch gehalten? Dass sie dabei auch wirtschaftliche Interessen hatten, ist – zumindest für sie – kein Einwand. Denn in ihrer Kultur heißt es „freedom is free enterprise“.

Bei allem respektvollen Dank, den wir Deutschen den Amerikanern wegen der Befreiung von der Nazi-Tyrannei entgegen bringen, der Kolonialismus-Vorwurf ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Insbesondere seit dem Amtsantritt des Präsidenten George W. Bush Anfang 2001 hat sich ein rechthaberischer Unilateralismus im politischen Washington festgesetzt. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat dieser eine vorwiegend militärische Note erhalten. Schon moderate kapitalismuskritische Töne geraten unter Fundamentalismusverdacht. Und Staaten, die sich gegen den Kapitalismus wenden, laufen Gefahr, als „Schurkenstaaten“ kategorisiert zu werden.

Es ist mir wichtig, den Wunsch nach Sicherheit gegen zu rasanten Strukturwandel, den Wunsch nach Ausgewogenheit zwischen Starken und Schwachen und den Wunsch nach einer intakten Umwelt vor solchen Vorwürfen in Schutz zu nehmen. Wenn wir die Globalisierung sozial und ökologisch verträglich gestalten wollen, müssen wir so viel Kapitalismuskritik akzeptieren.

Wie aber kommen wir zu einer zuträglichen Gestaltung der Globalisierung?

Zunächst einmal: sicher nicht durch Schritte rückwärts. Weder die Preisgabe technischer Fortschritte noch die Abschottung Deutschlands vom inter­nationalen Waren- oder Kapitalmarkt noch gar die Hinwendung zu irgend einem sozialistischen Experiment bringt uns der Lösung näher.

Ein wesentlicher Teil der Lösungsstrategie liegt in der Fortentwicklung Europas . Zu den parteiübergreifenden deutschen Zielen gehört eine Politische Union der Europäer, die Fortführung der Politik eines regionalen Ausgleichs (Kohäsion), der Nord-Süd-Verständigung (Cotonou-Abkommen) und der Vorreiterrolle beim globalen Umweltschutz (Kioto-Protokoll, Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung, Johannesburg 2002). Der Verfassungskonvent öffnet die Perspektive einer konstitutionellen Absicherung solcher Politiken.

Europa ist groß genug, um den internationalen Kapitalmärkten Respekt abzunötigen. Auch wenn der Euro im Vergleich zum Dollar relativ schwach dasteht: wir haben weder Inflation noch Wirtschaftsschwäche.

Ein selbstbewusstes Europa mit einer eigenen Verfassung ist eine ebenso realistische wie begeisternde Perspektive. Die Länder der Dritten Welt schauen mit hoffnungsvollem Bangen auf Europa als attraktiver Alternative zu einem vom Shareholder-Value-Denken gepeitschten militarisierten Amerika.

Europa ist aber trotz aller Sympathien aus den Entwicklungsländern keine geographisch zureichende Perspektive. Es müssen die Fragen der „Global Governance“ gestellt werden. Hierzu gehört eine Regulierung der globalen Finanzmärkte. wie sie etwa da „Financial Stability-Forum“ entwirft. Analog müssen Menschenrechte, Klimaschutz, Naturschutz, Handelsfairness und die Kern-Arbeitsnormen international rechtlich abgesichert werden.

Was Staaten und Firmen naturgemäß nicht gut können, ist die Kritik an sich selber. Hierfür sind wir auf die nichtstaatlichen Gruppen angewiesen. Für Staaten und Firmen ist es zunehmend riskant, wegen Skandalen und Rechts­verfehlungen an den Pranger gestellt zu werden. Einmal verspieltes Vertrauen bei den Kunden in aller Welt ist nur mit viel Zeit und riesigen Kosten wieder herzustellen. Die Weltfirmen Nestlé, Shell und Nike können ein Lied davon singen.

Die Politik kann für die segensreiche Arbeit der Nichtregierungsorganisationen hilfreich sein. Ich denke insbesondere an nationale und eines Tages internationale Regeln für Transparenz bei Herstellungsprozessen. Das macht es für die zivil­gesellschaftlichen Gruppen viel leichter, gezielten Druck auszuüben. Der Druck besteht darin, der nationalen oder internationalen Kundschaft zu ermöglichen, ihre moralischen Präferenzen zum Ausdruck zu bringen.

Ich kann mich als Kunde in freier Entscheidung weigern, etwas zu kaufen, was aus einem Land kommt, in dem die in unserem Grundgesetz festgelegten Grundrechte mit Füßen getreten werden. Das ist gerade kein Neokolonialismus. Ich habe nicht die geringste Verpflichtung, etwas zu kaufen, was mir moralisch oder rechtlich nicht gefällt. Und ich habe das Recht, für meine Überzeugungen öffentlich zu werben.

Über das Internet und über die normalen Medien verbreiten sich Informationen und Werturteile in Windeseile, und ein erheblicher ökonomischer Druck kann entstehen.

Stellen wir uns vor, dass sich auf diese Weise innerhalb von wenigen Jahrzehnten von Europa ausgehend eine globale Wertegemeinschaft ausbildet. Stellen wir uns vor, dass auch die Kunden der Pensionsfonds mehr und mehr an langfristigen Werten interessiert sind. Stellen wir uns vor, dass im Internet Portale geschaffen werden, die die Wareneinträge nicht primitiv nach dem Preis, sondern nach bestimmten ethischen Kategorien sortieren. Es kann für die Internet-Generation schick werden, moralische Skandale aufzudecken oder die dazu gehörige Information an interessierte e-commerce-Kunden weiter zu verbreiten.

Wenn wir uns all solches vorstellen, dann sehen wir, dass uns der Bedeutungs­verlust unserer nationalen Demokratie nicht in die Resignation treiben muss. Nein, wir sollten die gute Tradition, die sich für uns mit dem Grundgesetz verbindet, in die globalisierte Welt hinein tragen.

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